Gewerkschaften haben in der letzten Zeit eher selten Grund zum Feiern. Wenn es dann mal einen Anlass gibt, wie im Oktober 2012, als das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) seinen 60. Geburtstag feierte, dann wird geladen, was Rang und Namen hat: Der damalige DGB-Vorsitzende Michael Sommer, die ehemalige Bundesarbeitsministerin – jetzt zuständig für Kriegsministerium – Ursula v.d. Leyen, Konzern- und Gesamtbetriebsratsvorsitzende verschiedener Großkonzerne und Vertreter unterschiedlicher Arbeitgeberverbände. Der Tenor war einheitlich: das BetrVG ist ein Erfolgsmodell und hat wesentlich dazu beigetragen, Krisen in der Bundesrepublik zu verhindern.
Dabei war das Gesetz 1952 unter erheblichen Geburtswehen entstanden, an denen der DGB nicht unbeteiligt war. Das war auch kein Wunder. Schließlich war das Ziel der damaligen reaktionären Adenauer-Regierung mit Sicherheit nicht, den Beschäftigten ein Instrument in die Hand zu geben, mit dem diese ihre Interessen durchsetzen konnten. Es ging vielmehr darum, die gewerkschaftliche Macht in den Betrieben einzuschränken, Klassenkonflikte zu verrechtlichen und weiterreichende Mitbestimmungsmöglichkeiten, wie sie beispielsweise das Betriebsverfassungsgesetz des Landes Hessen vorsah, zu verhindern. Daher hatte der DGB im Frühjahr 1952 bundesweit in allen Betrieben zu Kampfmaßnahmen aufgerufen. Höhepunkt war der Streik in der Druckindustrie, an dem sich am 28. und 29. Mai 1952 mehr als 350.000 Kolleginnen und Kollegen beteiligten.
Verabschiedet wurde das Gesetz im Bundestag dann mit den Stimmen der bürgerlichen Parteien. KPD und SPD stimmten dagegen.
Kapitalistisches Erfolgsmodell
Das BetrVG als Erfolgsmodell zu bezeichnen, wie beim 60. Geburtstag geschehen, dazu hat die bundesdeutsche Bourgeoisie allen Grund. In wenigen Ländern Europas werden gesellschaftliche Konflikte so aus den Betrieben herausgehalten wie in der BRD. Und das Austragen betrieblicher Konflikte geschieht im rechtlich engen Rahmen des BetrVG. Dessen wesentliche Aufgabe ist die Sicherung des „Betriebsfriedens“ und die Herstellung der „Sozialpartnerschaft“.
So heißt es im §2 (1) des BetrVG:
§ 2 BetrVG – Stellung der Gewerkschaften und Vereinigungen der Arbeitgeber
(1) Arbeitgeber und Betriebsrat arbeiten unter Beachtung der geltenden Tarifverträge vertrauensvoll und im Zusammenwirken mit den im Betrieb vertretenen Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen zum Wohl der Arbeitnehmer und des Betriebs zusammen.
Die IG Metall Heidelberg schreibt dazu:
„Die Vorschrift enthält in Abs. 1 zunächst das Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat. Dieser Grundsatz sowie das in § 74 Abs. 2 enthaltene Arbeitskampfverbot für den BR, aber auch die Bindung des BR an das gesetzlich nicht näher definierte „Betriebswohl“ (das Wohl der Erwerbsgrundlage aller ArbeitnehmerInnen) setzt diesen Begriff im Wesentlichen mit dem wirtschaftlichen Interesse des AG gleich.[Hervorhebung BB]“1
Im § 74 Abs. 2 des BetrVG wird der Betriebsrat darauf verpflichtet, alles zu unterlassen, was Arbeitsablauf und Betriebsfrieden stört und sich (partei-) politisch neutral zu verhalten. Diese „Neutralitätspflicht“ gilt – nach Auffassung der Kapitalseite und ihr zugeneigter Richter – auch für Tarifauseinandersetzungen und Arbeitskämpfe.
Wo machbar, vor allem in schwächer organisierten Betrieben, wurde und wird die Bildung von Betriebsräten von der Kapitalseite verhindert. Nur wo das nicht ging, vor allem in der Großindustrie, war und ist das BetrVG der Kompromiss, um den Klassenkampf im Betrieb zu kanalisieren und zu neutralisieren.
Allerdings war die relative Ruhe und Stabilität in der Bundesrepublik auch einem anderen Faktor geschuldet, der Tatsache, dass die Bundesrepublik an der Nahtstelle zwischen Kapitalismus und Sozialismus lag. Die unmittelbare Nachbarschaft zu einem System, in dem Arbeitsplatzsicherheit, kostenlose Gesundheitsversorgung und Bildung, geringe Miet- und Mobilitätskosten gesellschaftliche Realität waren, setzte die Bourgeoisie unter Druck. Um die KPD verbieten und Kommunisten verfolgen zu können ermöglichte man gleichzeitig möglichst antikommunistisch geführten Gewerkschaften die Durchsetzung von Errungenschaften am Verhandlungstisch, die in anderen europäischen Ländern nur mit heftigen Arbeitskämpfen erreicht werden konnten.
Der Begriff „Sozialpartnerschaft“ spiegelt diese Situation wider. Das Verschleiern der Klassenwidersprüche, das Durchsetzen einiger Erfolge für das Proletariat ohne Kämpfe und damit die Illusion einer Partnerschaft mit dem Klassenfeind, die scheinbar fehlende Notwendigkeit von schlagkräftigen Gewerkschaften, der starke Einfluss von Betriebsräten und Betriebsratsvorsitzenden mit Stellvertretermentalität auf die Gewerkschaften lassen sich unter diesem Begriff subsumieren.
Die Verpflichtung auf „Betriebswohl“, Neutralitäts- und Friedenspflicht der Betriebsräte bilden die rechtlichen Grundlagen dessen, was als „Standortpolitik“ bezeichnet wird. Eine Form der „Interessenvertretung“, die zwangsläufig zur Spaltung der Klasse führt: In die Belegschaften verschiedener Betriebsstandorte (Beispiel: Opel), in (noch) relativ abgesicherte Kernbelegschaften und Leih- und ZeitarbeiterInnen oder die Beschäftigten der Zulieferketten.
Standortpolitik und Spaltung der Klasse haben allerdings nicht nur eine rechtliche Basis. Kapitalistische Produktion, Steigerung der Produktivität, d.h. fortwährende Revolutionierung der Produktion im kapitalistischen Krisenzyklus schaffen auch die materielle Grundlage: das Überangebot der Ware Arbeitskraft. Die einzelnen Anbieter dieser Ware stehen im Wettbewerb zueinander. Dass dieser Wettbewerb den Preis der Ware Arbeitskraft drückt, dass die Spaltung ausschließlich den Käufern der Ware, also den Kapitalisten zugute kommt, das ist eine Tatsache, die die Klasse seit jeher erfährt. Hier ist der wesentliche Ansatzpunkt für unsere politische Arbeit in Betrieben und Gewerkschaften.
Gewerkschaftliche Vertrauensleute als Basis einer klassenbewussten Interessenvertretung
Als Kommunisten setzen wir auf die tatsächliche Bewegung dort, wo die Kollegen in Auseinandersetzungen mit dem Klassengegner und seinem Staat den Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit täglich erfahren. Dort wo sie sich gemeinsam für ihre Interessen einsetzen und aktiv werden. In Betrieben, Unternehmen und Behörden sind dies in erster Linie die Vertrauensleute.
Vertrauensleute sind an der Basis der Gewerkschaften. Sie werden von den Gewerkschaftsmitgliedern im Betrieb gewählt und sind bei den Kolleginnen und Kollegen als Ansprechpartner bei Problemen, Konflikten, Fragen und Anregungen bekannt. Und sie organisieren den Kampf der Kolleginnen und Kollegen für höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und gegen die Angriffe der Kapitalisten. Sie stehen also dort, wo die Selbstorganisation der Lohn- und Gehaltsabhängigen für die eigenen Interessen stattfinden muss.
Gut organisierte und klassenbewusste Vertrauensleute sind in der Lage, die Stellvertretermentalität von Betriebs- und Personalräten zurückzudrängen, indem sie Beteiligung der Beschäftigten an allen relevanten Fragen einfordern und die Kolleginnen und Kollegen mobilisieren, sich einzumischen.
Die Arbeit als und mit Vertrauensleuten bietet uns die Möglichkeit, Klassenbewusstsein in der Arbeiterklasse zu entwickeln. Hier können die praktischen Erfahrungen organisiert werden, an denen wir anknüpfen, um gegen Standortlogik, Sozialpartnerschaft und Klassenspaltung zu argumentieren.
Dazu ist es allerdings häufig notwendig, Vertrauensleute-Strukturen neu aufzubauen, zu reaktivieren oder die Arbeit in bestehenden Strukturen zu politisieren.
Zustand gewerkschaftlicher Vertrauensleutearbeit
Wo Erfolge am Verhandlungstisch durchgesetzt werden können, wo (freigestellte) Betriebsräte die Auseinandersetzungen in Stellvertretermentalität führen, wo Klassenauseinandersetzungen „verrechtlicht“ sind, da gibt es kaum Bedarf für gewerkschaftliche Arbeit im Betrieb. Der letzte große gewerkschaftliche Arbeitskampf war der Kampf um die 35-Stundenwoche in der Druck- und Metallindustrie Anfang bis Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts. Die bundesdeutsche Arbeiterklasse hat also wenig konkrete Erfahrung im Arbeitskampf. Dies und der Verlust der sozialistischen Staaten in Europa Anfang der 1990er Jahre hat die deutsche Arbeiterbewegung erheblich geschwächt.
Wer mit Genossinnen und Genossen, die in den verschiedenen Branchen aktiv sind, über die Vertrauensarbeit vor Ort spricht, wird sehr bald feststellen, dass über alle Branchen und Gewerkschaften hinweg und bundesweit der Zustand der Vertrauensleute (VL)-Arbeit katastrophal ist. Regelmäßige Wahlen zum Vertrauensleutekörper, regelmäßige Treffen, eigene Bildungsarbeit, die sich auf die VL-Arbeit bezieht oder gar politische VL-Arbeit, die Klassengegensätze behandelt und Klassenbewusstsein fördert: in aller Regel Fehlanzeige. Im besten Fall arbeiten die Vertrauensleute noch bei der Forderungsdiskussion zu den Tarifrunden mit und organisieren die Warnstreiks.
Dabei gibt es allerdings Unterschiede zwischen den klassischen Industriegewerkschaften, die sich stark auf die Kernbelegschaften der großen, am Export orientierten Konzerne beziehen, und den Gewerkschaften im Dienstleistungs- und damit häufig Niedriglohnbereich.
Gerade in den letzteren haben in den letzten Jahren die Klassenkämpfe an Schärfe deutlich zugenommen. Und dies nicht nur auf Seiten des Kapitals bzw. des kapitalistischen Staates (beim Öffentlichen Dienst), sondern zunehmend auch in der Reaktion der betroffenen Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften. Bekanntestes Beispiel ist der Streik in den Sozial- und Erziehungsdiensten des Öffentlichen Dienstes im Jahr 2015. Dort haben sich im Verlauf der Auseinandersetzungen gewerkschaftliche Strukturen, wie Vertrauensleute-Körper und Betriebsgruppen gebildet, die gewerkschaftlicher Bildungsarbeit einfordern.
Perspektiven einer kämpferischen Vertrauensleutearbeit
Wie Vertrauensleute-Strukturen aufgebaut und gestärkt werden, wie wir die Vertrauensleutearbeit politisieren und für die Selbstorganisation und Mobilisierung der Kolleginnen und Kollegen nutzen, das muss jeweils anhand der konkreten Bedingungen entwickelt werden.
Ein erster Schritt kann die Organisation von Treffen der Vertrauensleute zu aktuellen Themen sein. Dabei sollte die Unterstützung der Betriebs- und Personalräte eingefordert werden. Die können den VL über Sprechstunden den notwendigen Freiraum während der Arbeitszeit schaffen. So macht man deutlich, dass Betriebs- und Personalräte die VL-Arbeit zu unterstützen haben und die Vertrauensleute erfahren, dass sie an die gesetzliche Interessenvertretung Anforderungen stellen können.
Bei diesen Treffen beschäftigen wir uns mit aktuellen Problemen in den einzelnen Teams, mit Fragen, die im Betriebsrat diskutiert werden, mit gewerkschaftlichen Themen, wie Tarifforderungen, Arbeitskampf-Gestaltung, Mobilisierung. Und wir reden darüber, wie wir als Vertrauensleute die Kolleginnen und Kollegen im Betrieb in diese Themen einbeziehen.
Bildungsangebote, wie VL-Konferenzen, Kerngruppenseminare etc., unterstützen die Vertrauensleutearbeit, indem der Zusammenhang von betrieblichen Problemen und den politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen aufgezeigt wird. Diese Angebote müssen sich nicht nur an die VL eines Betriebes oder einer Branche richten. Wo es gelingt, Branchen übergreifende Treffen und Veranstaltungen zu organisieren, dort kann der Austausch der VL das Erkennen von Gemeinsamkeiten bezüglich der Angriffe des Kapitals, als auch bezüglich der (Klassen-)Interessen fördern.
Im ver.di – Bezirk Südhessen finden seit mehreren Jahren jährliche Treffen von Vertrauensleuten statt, die in Tarifauseinandersetzungen und in Arbeitskampfleitungen aktiv sind. Dort treffen sich Kolleginnen und Kollegen aus dem Öffentlichen Dienst, von Post, Telekom und aus dem Wach- und Sicherheitsgewerbe oder dem Gesundheitsdienst, um darüber zu beraten, wie eine offensive und kämpferische Tarifarbeit entwickelt werden kann und wie sich die KollegInnen aus den einzelnen ver.di – Fachbereichen bei Auseinandersetzungen gegenseitig unterstützen können. Im letzten Jahr wurde beispielsweise vereinbart, sich gegenseitig bei Vertrauensleute-, Streik- und Betriebsversammlungen zu besuchen und über die Auseinandersetzungen in den anderen Fachbereichen zu berichten. Ziel dieser Vereinbarung war, den KollegInnen deutlich zu machen, dass die Angriffe auf die Beschäftigten in allen Branchen die gleichen Ziele verfolgen: Kostensenkung auf dem Rücken der KollegInnen durch Tarifflucht, Personalabbau oder Zerschlagung der Standorte. Und dass die Interessen der Kolleginnen und Kollegen in diesen Auseinandersetzungen gleich sind. Dass sie also gleiche Interessen als Angehörige einer Klasse haben.
Anforderungen an Kommunisten
Wenn wir als Gewerkschafter, Betriebs- oder Personalräte oder in der Jugend- und Auszubildendenvertretung (JAV) arbeiten, dann sollten wir einen Schwerpunkt auf die Entwicklung der Vertrauensleute-Arbeit legen. Aktive VL, die in funktionierenden Strukturen arbeiten, die sich regelmäßig – auch zu politischen Themen – austauschen, die ihre KollegInnen bei Auseinandersetzungen einbeziehen, die selbstbewusst gegenüber Betriebs- und Personalräten oder gegenüber dem Gewerkschaftsapparat auftreten und dort Unterstützung einfordern.
Sie sind der Ausgangspunkt für unseren Kampf um Klassenbewusstsein und Klassensolidarität.
Dabei können folgende Schritte notwendig sein:
- Aufbau oder die Reaktivierung von Vertrauensleute-Strukturen
Die Organisation von VL-Wahlen, das Entwickeln einer geeigneten Struktur und Arbeitsweise (VL-Treffen, BR-Sprechstunden). - Bildungsangebote
Diese können in unterschiedlichen Formen stattfinden. Ob Konferenzen oder Wochenendseminare sinnvoll sind, muss anhand der konkreten Gegebenheiten geprüft werden. Das Ziel ist die Politisierung der VL-Arbeit. Vertrauensleute müssen die konkreten betrieblichen Konflikte politisch einordnen können. Sie müssen verstehen, dass diese Konflikte nur kollektiv und unter Einbeziehung der Betroffenen angegangen werden können. Sie müssen selbst einen Klassenstandpunkt entwickeln und bei ihren KollegInnen dafür werden. - Über den Tellerrand schauen
Die Auseinandersetzungen in den verschiedenen Betrieben und Branchen müssen dazu genutzt werden, die Vertrauensleute und Beschäftigten zusammen zu bringen. Gemeinsame (Warn-)Streikaktionen, gemeinsame (Bildungs-)Veranstaltungen zu betrieblichen, gewerkschaftlichen oder gesellschaftlichen Themen schaffen die Möglichkeit, gemeinsame Interessen zu erkennen und Formen gegenseitiger Solidarität zu entwickeln.
Die Genossinnen und Genossen, die in Betrieben und Gewerkschaften aktiv sind, müssen dabei von der Partei unterstützt werden. Die jeweilige betriebliche Situation muss regelmäßig Gegenstand der Mitgliederversammlungen oder von Arbeitstreffen der betrieblich und gewerkschaftlich Aktiven auf Kreis- oder Bezirksebene sein. Als Partei können wir bei gewerkschaftlichen Bildungsangeboten oder bei VL-Konferenzen mit Referenten unterstützen.
1: Quelle: IG Metall@SAP, http://www.sapler.igm.de/demokratie/bvg002.html
[Quelle: Theorie & Praxis, Nr. 42 https://theoriepraxis.wordpress.com]