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Neonazis planen Aufmarsch in Kassel am Jahrestag des Hitler-Attentats von 1944. Verbot seitens der Stadt noch nicht erhoben. Ein Gespräch mit Silvia Gingold

Die Dortmunder Neonaziorganisation »Die Rechte« plante am 20. Juli einen Aufmarsch durch Kassel. Die »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten«, kurz VVN-BdA, forderte daraufhin die Stadtverwaltung auf, diesen zu untersagen. Am Mittwoch wurde mitgeteilt, die Verantwortlichen würden intensiv an einer Verbotsverfügung arbeiten. Ist das ein Erfolg?

Es ist zu befürchten, dass ein solches Verbot vor Gericht keinen Bestand haben wird, weil man sich auf die Versammlungs- und Meinungsfreiheit beruft. Wir sind aber der Überzeugung: Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen. Vor zwei Wochen beteiligten sich 10.000 Bürger eines breiten Bündnisses von Institutionen und Organisationen an einer Kundgebung gegen rechte Gewalt anlässlich der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Verantwortliche Politikerinnen und Politiker haben ihre Abscheu gegen rechte Hetze zum Ausdruck gebracht und beteuert, dass in Kassel kein Raum für Neonazis sein darf. Danach kann es nur eine Konsequenz geben: den Aufmarsch zu verbieten.

Auch wenn sie jetzt tätig werden sollte: Die in Kassel regierende Koalition aus SPD, Grünen und der Liberalen Liste hatte sich zunächst abwartend geäußert …

Nach der Ankündigung der Rechten, aufmarschieren zu wollen, gab es in der Stadt eine Welle der Empörung. Die VVN-BdA hatte am Montag mit einer öffentlichen Erklärung an die Mitglieder des Magistrats und SPD-Oberbürgermeister Christian Geselle appelliert, jetzt beweisen zu müssen, dass die Reden bei der Kundgebung nicht nur leere Worthülsen waren. Am Dienstag abend verabschiedeten spontan mehr als hundert Menschen im DGB-Jugendclub einen gemeinsamen Aufruf: »Kassel nimmt Platz – no pasarán«. All das hat die Verantwortlichen unter Druck gesetzt. Noch am Dienstag hieß es in der lokalen Presse, ein großes Polizeiaufgebot werde die geplante Versammlung sichern. Auch aktuell rechnet man seitens der Behörde weiterhin damit, dass der rechte Aufmarsch stattfinden wird.

Linke Antifaschisten kritisierten, Mitglieder der rechten Szene würden sich rund eineinhalb Monate nach der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke zu Opfern stilisieren. Wie ist das gemeint?

Die Partei »Die Rechte« hat unter dem Motto »Gegen Pressehetze, Verleumdung und Maulkorbphantasien« zum Marsch aufgerufen, der sogar am Regierungspräsidium vorbeiführen soll. Das ist perfide. Ausgerechnet diese Neonazis, die ein gesellschaftliches Klima herbeiführen, das zu Gewaltexzessen und Morden anheizt, spielen sich als angebliche Opfer auf. Zusätzliche Provokation ist, dass sie den Aufmarsch am 20. Juli planen – am Jahrestag des gescheiterten Attentats auf Hitler von 1944.

Während Sie selbst seit Jahren vom Verfassungsschutz als »Linksextremistin« beobachtet werden, agieren rechte Kräfte zunehmend offen auf der Straße. Als Tochter der kommunistischen Widerstandskämpfer Ettie und Peter Gingold: Wie werten Sie die derzeitige politische Stimmung im Land?

Man muss betonen: Der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke war seit Jahren nicht mehr im Visier des Verfassungsschutzes – wohl wissend um seine Vorstrafen, seine Gewaltbereitschaft, die er in Dortmund bei der 1.-Mai-Kundgebung 2009 zum Ausdruck gebracht hat, und dass er eingebunden war in rechte Netzwerke. Ich aber werde seit 2009 wegen meiner antifaschistischen und friedenspolitischen Tätigkeit sowie meiner Lesungen aus der Erinnerung meines Vaters beobachtet. Dabei geht es darum, an die Verbrechen der Nazis zu erinnern und daraus die richtigen Lehren zu ziehen. Das zeigt, wie der Verfassungsschutz arbeitet, und macht mich wütend.

Wie ist dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten?

Zum Teil hat die offizielle Politik dazu beigetragen, ein Klima zu schaffen, das den Rechten Auftrieb gibt: mit ihrer Abschottung gegen Asylsuchende, der inhumanen Politik mit Frontex auf dem Mittelmeer, den Zurückweisungen und Abschiebungen. Es gibt aber zugleich zunehmend größere und aktive Gegenbewegungen überall da, wo Neonazis aufgetreten sind, ob in Chemnitz oder Dortmund. So können wir Einfluss nehmen.

aus: Junge Welt, Ausgabe vom 12. Juli 2019. Das Interview führte Gitta Düperthal