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Allein in Hessen sind Hunderttausende Erwachsene von Analphabetismus betroffen. Ein Gespräch mit Barbara Dietsche

Barbara Dietsche koordiniert an der Volkshochschule in Frankfurt am Main das Projekt »1 zu 1 Basics« der Nationalen Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung (Alphadekade)

Schätzungen zufolge gibt es in Hessen rund 475.000 Erwachsene, die nicht richtig Deutsch lesen und schreiben können, wie das Kultusministerium zuletzt auf Anfrage der SPD-Landtagsfraktion mitteilte. Welche Ursachen gibt es dafür aus Ihrer Sicht?

Das ist eine Hochrechnung aus der sogenannten Level-One-Studie der Universität Hamburg, noch aus dem Jahr 2018, zum Leben mit geringer Literalität. Dabei geht es um Menschen, mit denen man sich in der Regel gut auf deutsch unterhalten kann, die aber höchstens einfache Sätze lesen und schreiben können – allerdings meist keine Texte von etwa einer halben Seite. Im Fall vom sogenannten primären funktionalen Analphabetismus handelt es sich um Menschen, denen etwa in ihrem Herkunftsland kein Schulbesuch möglich war; beim sekundären um diejenigen, die es danach wieder verlernt haben.

Mehr als die Hälfte derjenigen, die in der Studie als gering Literalisierte erfasst wurden, also 52,6 Prozent, haben der Herkunft nach im familiären Umfeld in ihrer Kindheit Deutsch gesprochen. Ursachen liegen oft in schlechten Erfahrungen in der Schule oder fehlenden Möglichkeiten. Sogenanntes Schulversagen kann mit Überforderung in der Schule oder mit Belastungen im familiären Umfeld zu tun haben.

Nicht selten dürften Betroffene aus Scham versuchen, ihren Analphabetismus zu verschweigen.

Die Leo-Studie ist repräsentativ. Allerdings fällt tatsächlich die Lese- und Schreibschwäche bei vielen Menschen zunächst nicht auf, weil sie gut Deutsch sprechen und alles tun, um Schriftsprache zu vermeiden. Sie holen sich beispielsweise ein Formular persönlich ab, organisieren sich beim Ausfüllen Hilfe. Im Bewerbungsverfahren informieren sie sich mündlich. Beim Arzt lassen sie sich alles genau erklären. Fahrkarten holen sie am Schalter oder beim Fahrer und nicht am Automaten.

Mit Beginn der Coronakrise muss es für diese Menschen schwierig gewesen sein. Welche Auswirkung hat das im Alltag der Betroffenen?

Durch zunehmende Digitalisierung wird es komplizierter, mit dem funktionalen Analphabetismus umzugehen. In allen Lebensbereichen nimmt die Teilhabebarriere zu, wenn persönliche Treffen und mündliche Gespräche weniger möglich sind und zugleich die Erwartungen an die Leistungen steigen. Betroffene Eltern sind angesichts des Homeschooling verunsichert. Wie sollen sie ihrem Kind helfen, wenn dieses die Aufgaben vom Lehrer per Mail erhält?

Inwiefern reichen bei den Volkshochschulen die Angebote, das Personal und die Räumlichkeiten aus?

Tatsächlich wurde die erwachsenengerechte Alphabetisierung und Grundbildung in den vergangenen Jahren ausgebaut. Von den gering Literarisierten haben dennoch nach der Leo-Studie insgesamt nur 0,7 Prozent Zugang gefunden. Leider müssen die Volkshochschulen auch regulär Kursgebühren verlangen, was es für die Betroffenen zusätzlich erschwert. Zudem ist die Werbung für Kurse durch Broschüren eher schwierig. Wichtig ist die persönliche Ansprache im Umfeld, dass man als Mensch geschätzt wird und es Spaß macht, gemeinsam zu lernen. Deshalb machen wir unser Angebot »1 zu 1 Basics«, das eine Einzelbegleitung durch ehrenamtliche Helfer beinhaltet.

Was sollte das Kultusministerium aus Ihrer Sicht zur Förderung veranlassen?

Wir brauchen in der Bevölkerung, in Einrichtungen und Behörden mehr Unterstützung, um Brücken für die Betroffenen zu bauen. Hilfreich wäre auch, wenn uns vor allem auch die pädagogisch und sozialarbeiterisch geschulten Fachkräfte zuarbeiten, um den Zugang zur Beratung zu erleichtern.

Für offene und niedrigschwellige Angebote in den Volkshochschulen benötigen wir verlässliche Ressourcen, damit die dort Beschäftigten langfristig planen und sich fortbilden können – und nicht immer nur prekär von einem Kurs oder Projekt zum nächsten. Erforderlich ist, durch staatliche Förderung die Ressourcen zu erhalten, um unsere Kurse kostenfrei anzubieten. Denn gerade bei diesen Menschen sitzt das Geld nicht locker in der Tasche.

(aus: Junge Welt, 24. April 2021. Das Interview führte Gitta Düperthal)