Hier informieren wir regelmäßig über Aktivitäten der Kreise und des Bezirks.
Hessen: Untersuchungsausschuss zu Hanau-Attentat hört Angehörige an. Familien fordern Konsequenzen für Behörden. Ein Gespräch mit Abdullah Unvar
Im Hessischen Landtag hat der Untersuchungsausschuss zum Anschlag von Hanau als erste Zeugen Hinterbliebene der Opfer gehört. Nach der Sitzung am vergangenen Freitag soll es am 17. Dezember weitergehen. Gab es für Sie neue Resultate?
Leider nicht, dabei stellen wir gar keine neuen Fragen – und wiederholen diese ständig. Dass wir Angehörigen dort überhaupt gehört wurden, mussten wir erst erkämpfen. Wäre es nach der hessischen Landesregierung von CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen gegangen oder nach den Behörden, hätte man die Akten so schnell wie möglich geschlossen.
Weil der Attentäter sich selber erschossen hatte, gab es niemanden mehr, den man anklagen kann. Wir akzeptieren das nicht und fordern Aufklärung, Gerechtigkeit und Konsequenzen. Zum Beispiel war der Täter den Behörden seit Jahren bekannt, hatte bereits im Vorfeld auf sich mit seiner rechtsextremen Gesinnung aufmerksam gemacht. Zu den ungeklärten Tatumständen gehört unter anderem, warum er trotzdem ab 2002 legal Waffen besitzen konnte. Auf dieses Versagen muss genau geschaut werden. Die Politik muss handeln.
Der Faschist Tobias Rathjen hatte am 19. Februar 2020 an drei Tatorten in der Hanauer Innenstadt neun Menschen, später sich selber und seine Mutter erschossen. Ferhat Unvar war eines der Opfer. Was müsste aus Ihrer Sicht als Angehöriger in dessen Gedenken geschehen?
Es müssen Konsequenzen gezogen werden, damit sich so eine schreckliche Tat in Deutschland nie wieder wiederholen kann. Wir wollen nicht, dass so ein Schmerz, wie wir ihn erleben mussten, andere Menschen nochmals durchmachen müssen. Seit jenem 19. Februar erwarten wir Hinterbliebene dieses rechtsterroristischen Anschlags lückenlose Aufklärung. Es gab eine Kette des Behördenversagens: vor, während und nach der Tat; später gegenüber den Angehörigen.
Nahmen die politisch Verantwortlichen im Ausschuss Stellung, weshalb bisher in der Hinsicht kaum etwas unternommen wurde?
Sie stellten Fragen. Ich hatte den Eindruck, dass sie alles nachvollziehen wollten. Ich rede aber jetzt nur von den demokratischen Parteien. Die AfD hat dieses Thema für sich ausgenutzt. Verwendete einer von uns versehentlich einen unpräzisen Begriff, versuchten sie, das für ihre Ziele zu nutzen. An die erste Sitzung des Ausschusses hatten wir noch keine großen Erwartungen. Aber nach den nächsten vier Terminen erwarten wir, dass unsere offenen Fragen beantwortet werden.
Vor dem Hintergrund, wie mit den Morden des rechtsterroristischen NSU umgegangen wurde: Wann wurde erstmals erwähnt, dass auch der Hanauer Anschlag einen rassistischen Hintergrund hat?
Wir neun Familien der Opfer hatten uns zuvor nicht untereinander gekannt, uns aber unmittelbar nach der Tatnacht getroffen und in der »Initiative 19. Februar« organisiert. Uns war sofort klar, dass der Täter bewusst Menschen mit Migrationshintergrund ermordet hatte, es sich um eine rechtsterroristische und rassistische Tat handelt. Der Generalbundesanwalt bestätigte es später. Manche Zeitungen berichteten dagegen zunächst von angeblichen Shisha-Morden.
Bislang haben Sie wenig Unterstützung seitens der Politik erfahren?
Wir hätten nicht nur finanzielle, sondern auch psychologische Hilfe gebraucht. Einige Familien haben kleine Kinder, die all das miterleben mussten. Für uns wird der Schrecken kein Ende haben, solange nicht endlich aufgeklärt ist, wie dies passieren konnte. Erfreulicherweise unterstützen uns Organisationen der Zivilgesellschaft.
Wie schätzen Sie das Vorgehen der Polizei ein?
Einerseits waren einfache Beamte in der Tatnacht möglicherweise überfordert, wussten nicht, wie sie handeln sollten, waren dafür nicht ausgebildet. Ich selber habe an einem Tatort in Hanau-Kesselstadt, wo der Täter wohnte, mitbekommen, dass sich ein Polizist übergeben musste. Andererseits darf man nicht vergessen, dass es ja in der Polizei selber rechtsextreme Chatgruppen gab. Deshalb fordern wir, dass innerhalb der Behörden Rechtsextremismus und Rassismus bekämpft werden. Beamte müssen unabhängig sein, sonst kann man sich nicht auf sie verlassen: Wir werden keine Sicherheit haben.
(aus Junge Welt, 8.12.21. Das Interview Führte Gitta Düperthal)