Hier informieren wir regelmäßig über Aktivitäten der Kreise und des Bezirks.
Faschistische Schmierereien in Kassel häufen sich. Nazigegner fordern Signal gegen rechte Provokationen. Ein Gespräch mit Ulrich Schneider
Im Namen der Kreisvereinigung Kassel der VVN-BdA haben Sie sich vergangene Woche wegen Nazischmierereien in der Stadt an die Öffentlichkeit gewandt. Kurz zuvor meldete die Polizei, dass großflächig Hakenkreuze und »Hitler« auf einen Parkweg gemalt wurden. Welche Ausmaße hat das angenommen?
Nachdem es eine ganze Zeit lang etwas ruhiger geworden war, tauchen seit dem Frühjahr wieder verstärkt solche Sachen auf, insbesondere in zwei Regionen: in der Karlsaue, der Parkanlage im Innenstadtbereich, und in der Nordstadt, insbesondere auf dem Hauptfriedhof. Hier werden gezielt im öffentlichen Raum von erkennbar jüngeren Leuten solche Schmierereien als Provokation angebracht.
Die Schmierereien werden entfernt, mehr passiert aber nicht?
Die werden logischerweise entfernt. Aber wenn es beispielsweise zu den rechten Schmierereien, die das erste Mal in der Karlsaue aufgetaucht sind, in der Pressemitteilung heißt, dass irgendwo auch ein »Z« aufgemalt worden sei, und man einen Zusammenhang zwischen den beiden Dingen konstruiert, dann wird deutlich, welches Problembewusstsein vorliegt …
Hakenkreuze und dergleichen werden also bloß als politische Schmierereien verbucht?
Genau. Und es wird nicht die Frage gestellt, was bedeutet es eigentlich, wenn man so gezielt mit Nazisymbolen an die Öffentlichkeit tritt.
Es liegt nahe, dass sich antifaschistische Organisationen wie Ihre empören. Wie groß ist das Problembewusstsein generell in Kassel?
Das ist, was uns eigentlich so ärgert: Abgesehen von Polizeimeldungen, die meistens kaum Aufmerksamkeit erhalten, hat sich zu diesem Skandal bislang in der Stadt nichts gerührt. Als das auf dem Hauptfriedhof mehrfach passierte, hat sich dessen Leiter in einer Stellungnahme gemeldet. Aber weder die Stadt noch andere gesellschaftliche Organisationen fanden es nötig, darauf zu reagieren. Ich fürchte, sie versuchen das quasi totzuschweigen, nach dem Motto »Wenn wir drüber reden, regen wir die an weiterzumachen.« Aber totschweigen geht nicht, insbesondere nicht, wenn man die Vielzahl dieser Provokationen in den vergangenen Wochen betrachtet.
Seit dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke 2019 durch Neonazis sollte doch die Stadt die faschistische Gefahr auf dem Schirm haben. Wieso ist das offenkundig nicht der Fall?
Selbstverständlich gibt es hier recht viele gesellschaftliche Gruppen, die mit großem Engagement versuchen, das aufzuarbeiten und für Toleranz sowie gegen Ausgrenzung etc. einzutreten. Nur bei solchen realen Problemen, wenn zum Beispiel Hakenkreuzschmierereien etc. auftauchen, wird auf einmal gemauert. Weiter so zu tun, als gäbe es kein größeres Naziproblem in Kassel, könnte dazu führen, dass uns bei der Documenta, die ja bald für 100 Tage die Stadt ins Licht der internationalen Öffentlichkeit rückt, solche Provokationen bösartig auf die Füße fallen.
Wie hat sich die Neonaziszene in Kassel in den vergangenen Jahren entwickelt?
Sehr heterogen. Wir haben immer eine Neonaziszene hier gehabt, die sich dann aber oftmals auch im Umfeld der Stadt »austobte«, weil sie in Kassel selbst auf Widerspruch und Widerstand stieß. Wir sehen jetzt, dass sich im jugendlichen Spektrum offenkundig die extreme Rechte wieder neu formiert.
Faschistische Schmierereien zu entfernen, ist das eine. Wie sollen aus Ihrer Sicht die Ursachen bekämpft werden?
Die Linke hat vor anderthalb Jahren im Zusammenhang mit dem Mord an Lübcke und dem Urteil gegen Stephan Ernst wegen der Tat eine Dokumentation herausgebracht unter dem Titel »Wenn wir das gewusst hätten«, – rein ironisch gemeint. Es waren alles Dinge, die man hätte wissen können – und die antifaschistische Recherchegruppen wissen. Nur, die Stadt und auch die Öffentlichkeit haben diese Sachen nicht wahrnehmen wollen. Und nachdem man die Jugendarbeit immer mehr – auch coronabedingt – heruntergefahren hat, muss man jetzt gucken, wie man wieder an die jungen Leute herankommt und ihnen klarmacht, wo hier die Grenze ist. Wir müssen ein Signal setzen, nur kann das nicht allein von der VVN-BdA kommen. Wir sind bereit, an diesem Thema politisch weiterzuarbeiten, mit den Kräften, die wir hier in der Stadt haben.
(aus Junge Welt, 31.5.2022. Das Interview führte Marc Bebenroth
»Schwere Verwerfungen«: Wachsende Zweifel an Umsetzbarkeit von einrichtungsbezogener Impfpflicht in Pflege- und Gesundheitsbereich
Für die Allgemeinheit ist sie vorerst nicht in Sicht, für Beschäftigte in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen dagegen schon beschlossen: die Impfpflicht. Bis zum 15. März sollen alle Angestellten von Kliniken und Pflegeheimen einen Nachweis über eine vollständige Covid-19-Impfung, einen Genesenennachweis oder ein Attest vorlegen, dass sie nicht geimpft werden können. Doch inzwischen nimmt die Kritik an dieser Maßnahme zu. Vor einem Personalmangel wegen vermehrter Kündigungen Ungeimpfter war etwa von gewerkschaftlicher Seite bereits gewarnt worden; jetzt mehren sich Zweifel an der schnellen Umsetzbarkeit der Regelung.
»Die Impfpflicht für medizinisch-pflegerische Berufe darf nicht mit der Brechstange eingeführt werden«, sagte am Dienstag der Vorstand der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch,gegenüber dpa. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) müsse die Sorgen vor Ort ernst nehmen. Gesundheitsämter und Ordnungsbehörden sähen sich nicht in der Lage, »das Mammutwerk bis zum 15. März ohne schwere Verwerfungen durchzusetzen«, sagte Brysch. Lauterbach müsse wissen, dass die Versorgung von bis zu 200.000 Pflegebedürftigen und Kranken in Gefahr sei. Ein Aufschub sei »dringend geboten«.
Insbesondere die Gesundheitsämter sehen sich mit der Kontrolle überfordert. Man rechne damit, dass im Schnitt bei fünf bis zehn Prozent der Mitarbeiter kein eindeutiger Nachweis oder kein vollständiger Impfschutz vorliege und eine Meldung an das Gesundheitsamt erfolge, sagte Elke Bruns-Philipps, die stellvertretende Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD), der Rheinischen Post (Dienstag). Das sei »eine erhebliche Belastung mit der Prüfung jedes Einzelfalls«. Das könne von den Gesundheitsämtern nicht zeitnah bewältigt werden.
Kathrin Vogler, gesundheitspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag, erklärte am Dienstag gegenüber jW, ihre Fraktion habe die einrichtungsbezogene Impfpflicht von Anfang an kritisch gesehen. Nun erweise sich, dass der Gesetzgeber offenbar nicht bedacht habe, »wie die in der Pandemie ohnehin überlasteten Gesundheitsämter die zusätzliche Überwachung dieser Pflicht noch stemmen können«, so Vogler. Hier räche sich »das Blitzverfahren, in dem die Koalition diesen Gesetzentwurf im Dezember durchs Parlament gepeitscht hat«. Es sei für sie allerdings »schwer verständlich, dass Menschen, die beruflich eng mit besonders gefährdeten Personengruppen zusammenarbeiten und deswegen schon 2021 bei den Impfungen priorisiert waren, sich bis heute nicht haben impfen lassen«.
Der Deutsche Pflegerat sprach sich für eine pragmatische Umsetzung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht aus und übte Kritik am Vorhaben. Pflegeratspräsidentin Christine Vogler plädierte für eine Risikoabwägung durch das jeweilige Gesundheitsamt. »Es bleibt ja gar nichts anderes übrig. Es kann ja nicht ein Gesundheitsamt sagen, wir ziehen die Leute ab. Was machen wir dann mit den Pflegebedürftigen?« sagte sie der dpa. Laut Infektionsschutzgesetz können die Gesundheitsämter ab dem 16. März nach einer gewissen Frist ein Tätigkeits- oder Betretungsverbot für Beschäftigte von Kliniken oder Pflegeeinrichtungen aussprechen, wenn diese keinen der geforderten Nachweise vorlegen.
Der Pflegerat hatte kürzlich bereits gewarnt, dass wegen der einrichtungsbezogenen Impfpflicht Personalprobleme auf die Branche zukommen. Tatsächlich hat die Zahl der Kündigungen in dem Bereich zugenommen. In der BRD haben sich derzeit ungefähr 12.000 Pflegekräfte mehr als üblich arbeitssuchend gemeldet. Insgesamt seien es im Januar im Gesundheits- und Sozialbereich 25.000 Arbeitssuchende mehr als üblich gewesen, sagte Daniel Terzenbach, Vorstandsmitglied der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit (BA), am Dienstag bei der Vorlage des Arbeitsmarktberichts für Januar. Dies betreffe damit ungefähr ein Prozent der Beschäftigten der Branche.
(aus: Junge Welt, 2.2.22. Autor: Kristian Stemmler)
Hessische Landesregierung investiert lieber in PCR-Tests für Abschiebungen als für Kitas. Ein Gespräch mit Saadet Sönmez
Sie kritisieren, dass PCR-Tests für Kitas in Hessen rar sind, während das Land für Abschiebungen aber sehr wohl solche Tests besorgen kann. Wie schätzen Sie die Situation von Geflüchteten ein, denen die Abschiebung während der Coronazeit droht?
Das Sozialministerium teilte am vergangenen Donnerstag im Sozialausschuss mit, dass flächendeckende PCR-Lolli-Test-Angebote in Kitas auch an fehlenden Kapazitäten scheitern würden. Der Ausbau von solchen Tests scheint aber möglich, wenn es um mehr Abschiebungen geht. Das zeugt von der verfehlten Migrations- und Gesundheitspolitik der hessischen Landesregierung von CDU und Bündnis 90/Die Grünen; zeigt, welche Prioritäten sie setzt. Sie organisiert Tests, um Menschen schneller abschieben zu können, interessiert sich jedoch nicht dafür, deren Bleiberecht zu organisieren, sie hier gut ankommen und leben zu lassen. Alle Energien und viel Geld fließen in inhumane Abschiebepläne. Dabei wäre hierbei Geld im Landeshaushalt einzusparen: 2021 wurden insgesamt 6,3 Millionen Euro für den Abschiebeknast investiert. Mit diesem Geld hätte man Ausbildungs- und Integrationskurse auf den Weg bringen können. Es kommt auf die Perspektive an: Will man auf Teufel komm raus abschieben, oder will man integrativ wirken?
In Frage steht, ob alle Inhaftierungen im hessischen Abschiebeknast rechtmäßig sind. Können Sie das an Beispielen verdeutlichen?
In der Zeit von März 2018 bis Juni 2019 wurden 297 Personen dort inhaftiert. Zum Beispiel wurde die 60 Jahre alte Kurdin Afitap D., die seit 35 Jahren in Deutschland gelebt hatte und Mutter eines geistig behinderten und betreuungsbedürftigen Sohnes ist, dort inhaftiert und im März in die Türkei abgeschoben. Gemeinsam mit ihr wurde auch Mutlu B., ein in Wiesbaden geborener 31jähriger, ausgeflogen, der in Deutschland gelebt und gearbeitet hat und gar kein Türkisch spricht. Im Juni 2021 war eine ganze Familie im Darmstädter Abschiebegefängnis inhaftiert worden und sollte abgeschoben werden. Die Initiative »Community for all« schaffte es, das zu verhindern.
Vergangenen Donnerstag behauptete die Frankfurter Allgemeine Zeitung, hessische Behörden hätten 2021 »deutlich mehr Kriminelle abgeschoben als im Jahr 2020«. Wie Innenminister Peter Beuth, CDU, dem Blatt mitgeteilt habe, sei die Zahl um ungefähr ein Fünftel auf 340 Personen gestiegen. Alles Straftäter?
Beuth suggerierte offenbar wieder, dass es 340 Verbrecher waren, die abgeschoben wurden – oft fügt er beschwichtigend das Wörtchen »überwiegend« bei. Dieselben Töne schlagen auch die Verantwortlichen der Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen für den integrations- und flüchtlingspolitischen Bereich an. Entweder, um so den Koalitionsfrieden mit der CDU zu wahren, oder aber möglicherweise auch, um grüne Politik neu auszurichten.
Was ist gemeint, wenn es heißt, abgeschoben würden Kriminelle?
Der Begriff ist sehr missverständlich: Mitunter geht es um eine Person, die dreimal ohne Ticket in der S-Bahn erwischt wurde; oder aber um ähnliche Kleindelikte, die, möglicherweise aus der Not geboren, in einer solchen Zwangslage begangen wurden. All das wird als kriminell ausgelegt und als Abschiebegrund vorgebracht. Wir sagen: Jeder, der sich hier was zu Schulden hat kommen lassen, soll sich auch hier verantworten können und müssen. Grundsätzlich sind sowieso nicht alle Inhaftierungen im Abschiebeknast tatsächlich rechtmäßig. Nach unserer Großen Anfrage dazu war klar: Jede 13. Person war dort zu Unrecht inhaftiert. Die Dunkelziffer ist mit Sicherheit höher. Nicht jeder dort hat einen guten Rechtsbeistand, der vor Gericht das Recht für seine Mandanten erstreiten kann und sich im Fachgebiet auskennt. Auch aus diesem Grund lehnt Die Linke das System Abschiebehaft und die Abschiebung prinzipiell ab.
(aus: Junge Welt, 31.1.22. Das Interview führte Gitta Düperthal)
Aufatmen in Hanau: In der hessischen Stadt darf kein weiteres Zwischenlager für Atommüll errichtet werden. Das entschied das Bundesverwaltungsgericht am Dienstag in Leipzig und wies damit die Revision der Entsorgungsfirma Orano NCS zurück. Den Bau solcher Anlagen in Gewerbegebieten sah das Gericht als unzulässig an.
Das Gefahrenpotential überschreite den in einem Gewerbegebiet »zulässigen Störgrad der nicht erheblichen Belästigung«, entschied das Gericht und bestätigte damit ein vorheriges Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes. Der Streit zog sich über mehrere Jahre hin; Orano NCS begehrte die Genehmigung, eine Halle im Technologiepark »Wolfgang« in ein Zwischenlager umzuwandeln. Zwei weitere Zwischenlager für schwach strahlende radioaktive Abfälle betreibt das Unternehmen bereits im Technologiepark.
Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) begrüßte die Entscheidung. »Das ist ein großartiger Tag für die zukünftige Entwicklung unserer Stadt«, heißt es in einer Erklärung. »Unser Ziel war und ist es, unsere Bedeutung als Hightech-Standort im Rhein-Main-Gebiet auszubauen«. Dass die Gefahr für diese Entwicklung nun gebannt sei, sei ein Erfolg.
Die Stadt hatte sich gegen ein weiteres Zwischenlager gewehrt, weil sie befürchtete, zur Anlaufstelle für Atommülltransporte aus der gesamten Bundesrepublik zu werden. »Uns geht es dabei nicht um einfaches Sankt-Florians-Denken, sondern darum, dass wir nicht allein die Lösung für ein bundesweites Problem übernehmen können«, erklärte Kaminsky. Immerhin bestehe in dem Technologiepark schon ein Zwischenlager mit den schwach radioaktiven Abfällen aus dem Abriss der alten Atomanlagen auf dem Gelände. »Wir tragen also unseren Teil der Verantwortung für den Atommüll, der angefallen ist.« Doch man sei nicht bereit, weitere Gewerbeflächen zu opfern, »um dort den Atommüll aus der gesamten Bundesrepublik (…) unterzubringen«.
Nuklearanlagen haben in Hanau Geschichte. In den 1980er Jahren wurde der Stadtteil Wolfgang als Standort umstrittener Anlagen bekannt. Bis in die 1990er stand dort das »Hanauer Atomdorf«, das die größte Ansammlung von Nuklearfirmen in Europa war. 1991 untersagte der damalige hessische Umweltminister, Joseph Fischer (Grüne), die Verarbeitung von Plutonium an dem Standort. Und die Tochtergesellschaften des Siemenskonzerns, Alkem und RBU, verlegten 1995 die Produktion von Kernbrennstäben an andere Standorte.
Mit dem Gerichtsurteil endet ein Rechtsstreit, der sich mehr als ein Jahrzehnt hinzog. Im Jahr 2009 begehrte Orano NCS – damals noch unter dem Namen »Daher Nuclear Technologies« – ein weiteres Zwischenlager im ehemaligen »Atomdorf«. Die Stadt verweigerte allerdings die Genehmigung und verwies auf Planungsmängel. Über alle rechtlichen Instanzen klagte das Unternehmen; aber auch damals blieb es vor dem Bundesverwaltungsgericht erfolglos.
Im April 2011 beantragte es die Baugenehmigung für das Zwischenlager erneut, diesmal aber mit überarbeiteten Unterlagen. 2013 wies die Stadt den Antrag zurück und begründete die Entscheidung damit, dass der Bebauungsplan ein nukleares Zwischenlager nicht zulasse. Vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt am Main bekam das Unternehmen dann im Januar 2018 Recht. In der Berufung kassierte der Hessische Verwaltungsgerichtshof 2020 das Urteil, ließ aber die Revision zum Bundesverwaltungsgericht zu.
Der hessische Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) begrüßte das Urteil ebenso. »Es ist gut, dass das Gericht das Recht der Stadt Hanau bestätigt hat, die Lagerung von radioaktiven Stoffen mittels Bauleitplanung ausschließen zu können«, erklärte Werner Neumann vom Vorstand des hessischen BUND-Landesverbandes. Man hoffe, dass in Hanau generell kein Atommüll mehr gelagert werde.
(aus: Junge Welt, 27.1.22. Autor: Bernd Müller)
Am 28. Januar 1972, vor genau 50 Jahren, führte Kanzler Brandt, SPD, der vorgab, „mehr Demokratie wagen“ zu wollen, zusammen mit den Ministerpräsidenten der Länder die Berufsverbote ein. Betroffen waren vor allem Kommunisten, aber auch Sozialdemokraten und andere Linke. Millionen Menschen wurden bespitzelt und verfolgt, tausende Verfahren durchgeführt und hunderte Lehrer, Lokführer, Postler… entlassen bzw. nicht eingestellt.
Während Betroffene bis heute um ihre Rehabilitierung und Wiedergutmachung streiten, nimmt die neue SPD-geführte Bundesregierung unter dem Deckmantel „mehr Fortschritt wagen“ zu wollen Kurs auf neue Berufsverbote. Im Koalitionsvertrag von SPD/Grüne/FDP steht auf Seite 9: „Um die Integrität des Öffentlichen Dienstes sicherzustellen, werden wir dafür sorgen, dass Verfassungsfeinde schneller als bisher aus dem Dienst entfernt werden können.“
Und auf Seite 104: »Die in anderen Bereichen bewährte Sicherheitsüberprüfung von Bewerberinnen und Bewerbern weiten wir aus und stärken so die Resilienz der Sicherheitsbehörden gegen demokratiefeindliche Einflüsse.«
Da soll wohl wieder der Verfassungsschutz verstärkt aktiv werden, der in den letzten Jahren immer wieder Schlagzeilen mit seinen Verflechtungen in die Nazi-Szene, mit Verstrickung in Terroranschläge, „Gedächtnisverlusten“, und Vertuschung machte. Der NSU-Mord an Halit Yozgat im April 2006 in einem Kasseler Internetcafe, bei dem Verfassungsschützer A. Temme anwesend war, konnte bis heute nicht aufgeklärt werden. Ministerpräsident Bouffier ließ die Akten für 120 Jahre unter Verschluss versinken. Erst auf Druck der Öffentlichkeit und 134.000 Unterschriften für die Forderung nach Offenlegung reduzierte er die Frist auf 30 Jahre.
Und unter der Bouffier-Regierung durfte der Verfassungsschutz bereits vor wenigen Jahren bei Vorgesetzten eines Kommunisten im öffentlichen Dienst Auskunft über dessen „Verfassungstreue“ verlangen.
Dass diese Richtlinien keineswegs für Nazis und terroristische „Gefährder“ gemacht sind, liegt auf der Hand. Sie werden auch mit keinem Wort erwähnt. Auch zur Bekämpfung der Waffenhorter, Drohbriefeverfasser und Hassverbreiter und anderer kriminellen Machenschaften reichen Grundgesetz und die konsequente Anwendung des Strafgesetzbuchs.
Es geht auch hier wieder nicht gegen sog. „Verfassungsfeinde“, sondern gegen demokratischen Widerstand gegen die Politik der Ampel, die – wie ihre Vorgänger – den Interessen des Kapitals dient.
Foto: Podiumsdiskussion gegen Berufsverbote im März 1983 im DGB-Haus. Von links: Mario Berger, Axel Brück, Egon Momberger (alle vom Berufsverbot betroffen), Prof. Helmut Ridder (Jurist), Burckhard Maletzki (DPG) – nicht mehr im Bild – Manfred Coppik (Rechtsanwalt) und Jörg Fey (GEW).
Michael Beltz
Im Dezember 2021 tagte der Ausschuss Schule, Bildung und Kultur. Auf der Tagesordnung stand die „Ehrung von Ria Deeg in Form eines Gießener Kopfes – Vorstellung des zeithistorischen Gutachtens“.
Oberbürgermeisterin Grabe-Bolz (SPD) setzte die Präsentation des Ergebnisses der Fachkommission in Form eines Gutachtens als letzten Akt ihrer Amtshandlung auf die Tagesordnung, weil es ihr ein persönliches Anliegen gewesen sei. Schon im Vorfeld versuchte der FDP-Stadtverordnete Erb, diesen Punkt von der Liste zu streichen.
Die Kommission unter Vorsitz der Historikerin Dr. Ulrike Krautheim fasste zusammen: „Eine Kommunistin, die sich für die Demokratie stark gemacht hat. Die Kommunisten in der BRD wurden beim Gedenken an Widerstandskämpfer ausgeklammert. Deeg trat ein für die Demokratie und die Friedensbewegung.“ Krautheim führte aus, Ria sei eine bemerkenswerte Persönlichkeit gewesen, die sich für Menschlichkeit einsetzte. Die Historikerin sprach allerdings nicht davon, dass Ria auch nach der Befreiung vom Faschismus weiter als Kommunistin aktiv war. Ria blieb Revolutionärin und kämpfte für den Sozialismus. Seit der Konstituierung der DKP war sie Mitglied unserer Partei. Kein Wort darüber findet sich in dem Gutachten.
Da die Oberbürgermeisterin im Vorfeld wusste, dass selbst die eigenen Koalitionspartner, die Grünen, Ria nicht würdigen wollen, stand dieser Punkt auch nicht als Antrag auf der Tagesordnung. Wir erinnern uns: CDU, FDP und die Grünen stimmten mit allen anderen 1987 für die Goldene Ehrennadel, die Ria Deeg in einer feierlichen Stunde von Bürgermeister Mutz (SPD) überreicht bekam. Sie nannten Ria eine mutige und konsequente Antifaschistin – und stimmen 2021 gegen eine Stele. Woher kommt der Meinungsumschwung? Was hat sich geändert?
Irgendwie wundert es mich nicht. Dennoch: Es ist immer wieder unfassbar, welche Maßstäbe für die Anerkennung von Widerstand gegen den Faschismus und welche Maßstäbe für Ehrungen in Deutschland angewendet werden. Es ist zu beobachten, dass es schwierig bis unmöglich scheint, Kommunisten würdevolle und verdiente Ehrungen – vor allem im Kampf gegen den Faschismus – zu verleihen, so, als wäre unser Widerstand weniger wert.
Die DKP Gießen stellte vor zehn Jahren einen Antrag, das Ensemble in der Plockstraße geehrter Gießener Frauen, die wegen des deutschen Faschismus emigrieren mussten oder in einem KZ ermordet wurden, mit einer Stele für Ria zu ergänzen. Dies wurde abgelehnt. Nachdem die Stadt dann 2015 beschlossen hatte, dass erst 20 Jahre nach ihrem Tod – bis dahin reichten zehn Jahre – Menschen in Gießen geehrt werden können („Lex Ria Deeg“), hatte Michael Beltz (DKP) für die Fraktion „Gießener Linke“ diesen Antrag wiederholt eingebracht.
Das Ergebnis einer kurzen Beratung lautete, eine Kommission, die für Benennung von Straßen und nun auch für allgemeine Ehrungen zuständig sei, solle darüber befinden. Die Oberbürgermeisterin beauftragte die oben genannte Kommission, ein Gutachten zu erstellen.
Es gab in Gießen keine andere Antifaschistin, die sich mehr Verdienste im Kampf gegen den Faschismus erworben hat und dafür ins Zuchthaus gesperrt wurde, als Ria Deeg. Für die Erkenntnis zu Ria hätte es keiner Prüfung durch eine „Fachkommission“ bedurft. Das können hunderte ehemalige Gießener Schülerinnen und Schüler bestätigen, die sie als Zeitzeugin zu sich eingeladen haben. Das können alle bestätigen, die von ihr das Eintreten für Demokratie und Sozialismus gelernt haben.
Ria hat an ihrem Leitsatz „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“ ihr Leben lang festgehalten und gegen alte und neue Faschisten gekämpft. Dieses Grundprinzip war nach dem Krieg und bis in die 80er Jahre Konsens aller Demokraten in Deutschland. Das änderte sich 1999, als die SPD mit den Grünen (Schröder/Fischer) erstmals wieder einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien führte – genau, jener Herr Fischer, der erst in Wiesbaden als Umweltminister turnschuhte, um dann bundesweit mit Schröder die Interessen der Banken und Konzerne mit Kriegseinsätzen zu wahren.
Schon diese Regierung wusste, dass Regierungsfähigkeit in Deutschland bedeutet, sich ohne Wenn und Aber der imperialistischen Kriegspolitik zu verschreiben. Habeck hat dies zuletzt mit seiner Ansage an die Linkspartei lediglich bestätigt. Wundern muss man sich aber über diejenigen, die den Grünen, nach allem, was sie auf dem Kerbholz haben, weiter Nähe zu friedenspolitischen Positionen attestieren. Schließlich hetzt Baerbock am lautesten gegen Russland/China, um einen Krieg herbeizureden. Die FDP Gießen stellte passend einen Antrag, um die Gießener Städtepartnerschaft mit San Juan del Sur (Nicaragua) und Wenzhou (China) zu kündigen.
Erika Beltz (DKP Gießen) schrieb dazu: „Ria Deeg würde heute mit am Schärfsten gegen diese Kriegstreiber auftreten, folgerichtig lehnen auch die Grünen ihre Ehrung strikt ab. Wenn auch auf dieser Sitzung kein Beschluss gefasst wurde, bleibt es dabei: Ohne Ria Deeg, die sich in Gießen wie keine andere im Kampf gegen den Hitler-Faschismus eingesetzt hat und dafür Jahre ins Zuchthaus gesperrt wurde, ist dieses Ensemble unvollständig. Es ist gut, dass es noch Sozialdemokraten gibt, die nicht vergessen haben, dass Mitglieder ihrer Partei wie die der KPD gemeinsam in den KZs der Nazis saßen und an der Losung ‚Nie wieder Faschismus – Nie wieder Krieg‘ festhalten.“
Unsere Autorin Martina Lennartz ist Stadtverordnete der Gießener Linken und Mitglied der DKP
Die Sammelwut des Verfassungsschutzes zeigt, dass der »Radikalenerlass« von 1972 bis heute nachwirkt. Ein Gespräch mit Silvia Gingold
Die Einführung des sogenannten Radikalenerlasses in der BRD jährt sich am 28. Januar zum 50. Mal. Wie erinnern Sie sich an die damalige Zeit?
Meine politischen Mitstreiterinnen und Mitstreiter und ich befürchteten, dass mit dem »Radikalenerlass« in erster Linie Marxisten, Mitglieder der DKP und anderer linker Organisationen getroffen werden sollten. Es hat dann jedoch unsere Vorstellungskraft übertroffen, dass die massenhafte Überwachung und Bespitzelung von Menschen, die irgendwann einmal durch ihre kritische Haltung gegenüber gesellschaftlichen Missständen aufgefallen sind, ein solches Ausmaß annehmen würde. Der Geist der 68er-Bewegung, Fragen nach der Nazivergangenheit von Politikern, Juristen, Lehrern und Hochschullehrern sowie zunehmende kapitalismuskritische und marxistische Ideen angesichts der ökonomischen Krise wurden als »verfassungsfeindlich« kriminalisiert, junge Menschen wurden eingeschüchtert, um demokratisches Engagement zu verhindern.
Wolfgang Abendroth stellte auf der internationalen Konferenz gegen die Berufsverbote in Darmstadt 1979 fest: »Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland ein politisches Überwachungssystem, wie es in dieser Perfektion und in diesem Umfang in keiner anderen bürgerlichen Demokratie besteht, noch nicht einmal in den Vereinigten Staaten, etwa in der Zeit des Kalten Krieges. Das Bundesverfassungsschutzamt kombiniert millionenfach Zählkarten und Akten über fast jedermann, der irgendwann einmal kritisch im politischen Leben aufgetaucht ist«. Und der französische Publizist Alfred Grosser sagte 1975 in der Frankfurter Paulskirche: »Wenn man die Nürnberger Judengesetze als normales Recht trocken ausgelegt hat, durfte man Staatssekretär im neuen Rechtsstaat werden. Wenn man die Gestapo polizeirechtlich gerechtfertigt hatte, durfte man in der freiheitlichen Grundordnung Rektor und Kultusminister werden. Die Kriterien, die nun verbieten sollen, Zollbeamter oder Dorfschullehrer zu werden, scheinen mir wahrlich strenger zu sein.«
Sie selbst gerieten unter anderem aufgrund ihres antifaschistischen Engagements ins Visier der Behörden und wurden aus dem hessischen Schuldienst entlassen. Was haben die Behörden damals gegen Sie ins Feld geführt?
Eine Einladung zu einem »persönlichen Gespräch« ins Regierungspräsidium Kassel 1974 nach vierjähriger Unterrichtstätigkeit offenbarte sich mir als Gesinnungsüberprüfung. Dort konfrontierte man mich mit »Erkenntnissen« des Verfassungsschutzes, die dieses Amt seit meinem 17. Lebensjahr über mich gesammelt hatte.
Worum ging es da?
Unter anderem um die Teilnahme an Demonstrationen gegen den Krieg in Vietnam, an Veranstaltungen der DKP, der SDAJ, an wissenschaftlichen Tagungen des Instituts für Marxistische Studien und Forschungen sowie Reisen in die DDR. Auch war aufgelistet, wann und wo ich Flugblätter beispielsweise für die Aufhebung des KPD-Verbots verteilt oder unterzeichnet hatte. Damals war ich im Visier des VS, weil auch meine kommunistischen Eltern unter Beobachtung standen. Das ging dann für den Inlandsgeheimdienst gleich in einem Aufwasch.
Aber konkrete verfassungswidrige Aktivitäten konnten Ihnen doch bis heute nicht nachgewiesen werden?
Weder damals noch heute. Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofes Kassel, das mich in meinem Prozess gegen das Land Hessen 1977 zur »Verfassungsfeindin« stempelte, und mir meine Eignung als Beamtin verweigerte, beruhte auf der Prognose eines möglichen verfassungswidrigen Verhaltens allein aufgrund meiner Zugehörigkeit zur DKP, die als »verfassungsfeindlich« eingestuft wurde. Eine solche Prognose durch Gerichte galt für viele vom Berufsverbot Betroffene, teilweise von Richtern, die schon während der Nazizeit Urteile gegen Kommunistinnen und Kommunisten und andere Gegner des Naziregimes fällten.
Sie sind die Tochter der bekannten antifaschistischen Widerstandskämpfer Ettie und Peter Gingold. Ist es vor diesem Hintergrund nicht besonders schmerzlich, dass Ihre Familie – in diesem Fall auch Sie – auch nach der Befreiung Deutschlands vom Faschismus weiterhin mit staatlichen Repressionen überzogen und als Verfassungsfeindin abgestempelt worden sind?
Die Kommunisten waren die ersten, die massiven Verfolgungen und Repressionen während der Nazizeit ausgesetzt waren. Der Antikommunismus fand einen nahtlosen Übergang in die Bundesrepublik und setzte sich in der Adenauer-Ära über den »Radikalenerlass« bis heute als »Staatsraison« fort. In den 50er Jahren saßen Kommunisten in Gefängnissen, darunter auch Überlebende aus den faschistischen Konzentrationslagern. Die Hoffnung meiner Eltern auf eine antifaschistische und demokratische Gesellschaft in der Bundesrepublik wurde zerschlagen, für sie war das nach ihren leidvollen Erfahrungen während des Faschismus eine bittere und schmerzvolle Erkenntnis.
Die Behörden scheuten sich nicht einmal, als Beleg für Ihre angebliche Verfassungsfeindlichkeit anzuführen, dass Sie öffentlich aus dem Buch über das Leben ihres Vaters vorgelesen hätten. Wie passt das damit zusammen, dass die Stadt Frankfurt am Main Ihre Eltern 1991 mit der Verleihung der Johanna-Kirchner-Medaille geehrt hat?
Ja, es ist absurd und skandalös, dass mir der »Verfassungsschutz« ausgerechnet meine Lesungen über den Widerstand meiner Eltern gegen die Nazis, wofür sie geehrt wurden, als »verfassungsfeindliche« Aktivitäten anlastet und das unter anderem damit begründet, dass die Lesungen in einem »linksextremistischen« Umfeld wie der VVN-BdA stattfinden. Dass dieses Amt erneut jetzt, wo ich im Ruhestand bin, Informationen über mich sammelt, habe ich erst erfahren, als ich Auskunft über die dort gespeicherten Daten aus den 70er Jahren beantragte. Diese Sammelwut des Inlandsgeheimdienstes zeigt, dass der »Radikalenerlass« bis heute nachwirkt. Deshalb ist es so wichtig, daran zu erinnern und vor neuen Plänen der Ampelkoalition zu warnen, die dafür sorgen will, »dass Verfassungsfeinde schneller als bisher aus dem Dienst entfernt werden können«, wie es im Koalitionspapier heißt. Wer »Verfassungsfeind« ist, und was als »extremistisch« gilt, das definiert der »Verfassungsschutz«, damit haben wir leidvolle Erfahrungen.
Trotzdem haben Sie nie klein beigegeben, sondern sich gegen ihre Überwachung durch die Inlandsgeheimdienste zur Wehr gesetzt. Mit Erfolg?
Der »Radikalenerlass« hatte nicht nur die beabsichtigte Einschüchterung und Duckmäusertum zur Folge. Er löste bei vielen Menschen Proteste dagegen aus, die massenhaft für die Verteidigung demokratischer Rechte auf die Straße gingen und Solidarität mit den Betroffenen übten. Der Druck der demokratischen Öffentlichkeit im In- und Ausland trug dazu bei, dass selbst Willy Brandt (SPD-Bundeskanzler von 1969 bis 1974, jW), unter dessen Vorsitz der Radikalenerlass verabschiedet wurde, das als »Irrtum« einsah, und viele Betroffene in den Öffentlichen Dienst eingestellt werden mussten, – auch wenn die Berufsverbote damit noch nicht beendet waren. Diese Erfahrung treibt mich an, auch heute im Kampf gegen meine Überwachung durch den »Verfassungsschutz« nicht locker zu lassen. Auch wenn ich mir keine Illusionen über juristische Erfolge mache, so wird doch eine breitere Öffentlichkeit mit diesen grundgesetzwidrigen Praktiken konfrontiert und mobilisiert.
Was konkret erwarten Sie von den politisch Verantwortlichen?
Wir ehemals vom Berufsverbot Betroffene sind inzwischen meist 70 Jahre und älter. Manche leben heute in Altersarmut, weil ihr beruflicher Weg zerstört wurde. Andere leiden unter den psychischen Folgen dieser Zeit. Ehe sich das Problem »biologisch« erledigt, arbeiten wir mit Nachdruck darauf hin, dass dieses Kapitel der bundesdeutschen Geschichte in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerät.
Die meisten jungen Menschen wissen nichts über die Repressionen der 70er Jahre. Wir wollen, dass die Berufsverbote öffentlich als Unrecht anerkannt, die Unrechtsurteile aufgehoben, wir rehabilitiert und entschädigt werden. In diesem 50. Jahr seit dem »Radikalenerlass« werden wir unsere Forderungen an Politikerinnen und Politikern herantragen, mit ihnen Gespräche führen und die gesammelten Unterschriften, die von einer großen Unterstützung unserer Forderungen zeugen, an Regierungsverantwortliche übergeben.
(aus: Junge Welt, 11.1.2022. Das Interview führte Markus Bernhardt)
Hessen: Untersuchungsausschuss sucht nach Verbindungen zwischen NSU-Umfeld und Helfern von Lübcke-Mörder. BKA sieht keine Anhaltspunkte
Auch zweieinhalb Jahre nach dem Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke versucht ein Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags, Hintergründe der Tat auszuleuchten. Im Fokus: die Rolle der Sicherheitsbehörden, aber auch die Verstrickung von Stephan Ernst in die nordhessische Neonaziszene. Ernst war im Januar für den Mord an Lübcke zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Am Donnerstag versammelte sich der Ausschuss zur 21. Sitzung in Wiesbaden. Dabei ging es auch um die Rolle von Ernsts Freund Markus H., der ihm den Kontakt zum Waffenhändler vermittelte, von dem Ernst die Tatwaffe bekam.
»Wir versuchen momentan, Verbindungslinien zwischen dem Unterstützerumfeld des NSU in Kassel und dem Umfeld von H. und Ernst nachzugehen«, erklärte Hermann Schaus, Obmann der Fraktion Die Linke im Ausschuss, am Donnerstag gegenüber jW. Bei diesem Umfeld und den früheren Helfern des rechtsterroristischen »Nationalsozialistischen Untergrund« handele es sich »im wesentlichen um denselben Personenkreis«.
Der BKA-Beamte, der am Donnerstag im Ausschuss aussagte, sah es etwas anders. Er behaupte, es habe keine Verbindung zwischen den Tätern im Mordfall Lübcke und dem NSU gegeben. »Die Ermordungen des NSU waren nicht die Blaupause für den Mord von Walter Lübcke«, sagte der Zeuge laut der Nachrichtenagentur dpa. Der Beamte war sowohl im Verfahren gegen die faschistische Terrorzelle als auch bei den Ermittlungen um den Mordfall Lübcke beteiligt. Zwei weitere Zeugen, die am Donnerstag ebenfalls im Ausschuss befragt werden sollten, erschienen nicht zu ihren Terminen. Am 13. Januar 2022 sollen die öffentlichen Befragungen fortgesetzt werden.
Bereits am Mittwoch war mit dem Kasseler Neonazi Mike Sawallich ein Freund von Ernst vernommen worden. Wie der Spiegel im Juni 2019, nach dem Lübcke-Mord, berichtet hatte, gilt Sawallich als Führungsfigur in der Kasseler Neonaziszene und Ziehsohn des stellvertretenden NPD-Vorsitzenden Thorsten Heise. Kurz nach der Festnahme von Ernst schrieb er bei Facebook: »Ich stehe in Guten wie in Schlechten Zeiten zum Kamerad E.!!! [sic!]« Sawallich habe bei seiner Vernehmung eher gemauert, berichtete Schaus gegenüber jW. Dennoch habe die Befragung »spannende Erkenntnisse« erbracht.
So habe der Zeuge eingeräumt, dass er mit Benjamin Gärtner, ehemaliger V-Mann des Verfassungsschutzes, ausführlich über den NSU-Mord an Halit Yozgat in einem Kasseler Internetcafé im April 2006 gesprochen habe. Weiter habe Sawallich seine Beteiligung bei einem bis heute nicht aufgeklärten Angriff auf ein »Zeckenwohnheim« 2003 zugegeben. Nach »langem Hin und Her« habe Sawallich auch eingeräumt, dass er auf einem ihm vorgehaltenen Foto von einer Sonnenwendfeier im Sommer 2011 auf dem Gehöft von Heise im nordthüringischen Fretterode hinter Ernst zu erkennen ist. »Ich betrachte Sawallich als einen sehr engen Kumpel von Thorsten Heise«, sagte Schaus. Der NPD-Vize wiederum spiele in der gesamten Region eine herausragende Rolle, er koordiniere die Verbindungen »zwischen Nordhessen, der Dortmunder Szene, der Thüringer Szene«, sei so etwas wie »die Spinne im Netz«. »Heise ist meiner Ansicht nach der momentan gefährlichste Nazi in Deutschland«, sagte Schaus.
(aus: Junge Welt, 17.12.21. Autor: Kristian Stemmler)
Hessen: Staatsanwaltschaft stellt Ermittlungen wegen Serie von Brandanschlägen gegen Linke heimlich ein. Ein Gespräch mit Tom Schmitz
Die Serie von zwölf Brandanschlägen auf linke und feministische Wohnprojekte im Rhein-Main-Gebiet zwischen September 2018 und Juli 2019 wird juristisch nicht weiter verfolgt. Die Frankfurter Staatsanwaltschaft stellte weitere Ermittlungen gegen den verurteilten Brandstifter Joachim S. ein. Wie kam es dazu?
Joachim S. wurde nach einem Prozess zwischen November 2020 und Januar 2021 wegen insgesamt 16 schweren Brandstiftungen rechtskräftig zur Haftstrafe von siebeneinhalb Jahren verurteilt – darunter jedoch nur zwei, die sich gegen linke Wohn- und Kulturprojekte richteten. Diese gegen das »Lila Luftschloss« in Frankfurt am Main und das autonome Kulturzentrum Metzgerstraße Hanau verübten Anschläge waren Teil des Verfahrens, weil er dort auf frischer Tat ertappt wurde. Bei 14 weiteren teils schweren Brandstiftungen, die er zwischen Juli und Dezember 2019 beging, war kein rechter politischer Tathintergrund zu erkennen. Ermittlungen wegen zehn weiteren gegen linke Projekte gerichteten Brandanschlägen stellte die Staatsanwaltschaft im April klammheimlich ein. Wovon wir Betroffene und die daran interessierte Öffentlichkeit erst jetzt, Monate später, durch Berichte der lokalen Presse erfuhren. All dies passt leider ins Bild, das wir uns von der Arbeit der Polizei- und Justizbehörden hinsichtlich des Umgangs mit der Anschlagsserie machen mussten: Sie sind auf dem rechten Auge blind.
Weshalb besteht aus Ihrer Sicht der Verdacht, dass sich Joachim S. auch für Brandanschläge auf linke Zentren, wie etwa das Frankfurter »Café Exzess« in Bockenheim oder die alternativen Wohnprojekte »Au« und »Assenland« in Rödelheim verantworten müsste?
Zum Hintergrund des Täters ist bekannt, dass Joachim S. seit 2015 versuchte, linke Projekte bewusst zu schädigen, die später von Brandanschlägen betroffen waren. Er suchte beispielsweise in deren öffentlich einsehbaren Bilanzen nach Formfehlern, um sie bei der Bafin (Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, jW) zu denunzieren. Er wurde viel zu spät, im Dezember 2019, verhaftet. Zuvor war er achtmal festgenommen und siebenmal wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Danach endete die Anschlagsserie auf linke Projekte.
Welche Hinweise auf das politische Motiv von S. gibt es?
Allein dessen Wahl der Anschlagsziele weist auf ein rechtes Weltbild hin. Dass rechte Gewalttäter nicht immer ein Manifest schreiben müssen, um ihre Ideologie zu vermitteln, sollte hinlänglich bekannt sein. Bei Joachim S. sprechen weitere Indizien dafür, dass er sich gezielt gegen links wendete: Chatprotokolle auf seinem Mobiltelefon, in denen er sich abfällig gegen Linke und deren Wohnprojekte äußerte, sowie homofeindliches und antifemistisches Bildmaterial. Er unterstützte die AfD zweimal mit Spenden: im August 2019, knapp einen Monat vor dem ersten Brandanschlag, mit 1.700 Euro an die damals im Landtagswahlkampf befindliche hessische AfD.
Sie konstatieren, sich nicht auf die Justiz verlassen können – welche Folgen hat das?
Praktisch hat diese Untätigkeit der Behörden beispielsweise die Folge, dass keiner dieser rechtsmotivierten Anschläge sich in einer offiziellen Statistik wiederfindet. Da auch schon die ermittelnden Polizisten sich bemüht haben zu entpolitisieren, ist unser sowieso schon eher geringes Vertrauen in Hessens Polizei- und Justizbehörden noch weiter gesunken. In Hessen, insbesondere in Frankfurt, gab es zudem eine regelrechte Hetzkampagne der politischen Parteien FDP, CDU und AfD, die linke Projekte beenden wollten. Ebenso tragen Polizei und Justiz am Rechtsterror Mitverantwortung, zumal sie gerade in Hessen auch gegenüber rechten Netzwerken in den eigenen Reihen weitgehend untätig bleiben. Täter wie Joachim S. fühlen sich in diesem gesellschaftlichen Klima bestätigt, im Sinn einer vermeintlichen »Mitte« zu handeln. Wichtig ist und bleibt organisierter antifaschistischer Selbstschutz; eigene Recherchen zu Nazistrukturen; und dass wir uns der extremen Rechten auf den Straßen, in den Behörden und Parlamenten entgegenstellen.
(aus: Junge Welt, 15.12.21. Das Interview führte Gitta Düperthal)
Die Auseinandersetzung um die längst fällige Ehrung der Gießener Widerstandskämpferin Ria Deeg am 2.12. im Kulturausschuss endete wieder in peinlichem Gerangel. Schon einmal wurden alle Versuche abgeblockt mit der „Lex Ria Deeg“, die die Frist von Ehrungen von 10 auf 20 Jahren erhöhte.
Das nun von OB Grabe-Bolz vorgelegte „Gutachten“, federführend erstellt von der früheren SPD-Stadtverordneten Krautheim, schildert Ria Deeg als integre, bewundernswerte Persönlichkeit, die sich für Menschlichkeit und Demokratie einsetzte. Das politische Wirken der Kommunistin, die zeitlebens Mitglied der DKP war und bis ins hohe Alter gegen Faschismus und Krieg eintrat, fehlte. Falls das zur Milde bewegen sollte, hat es nichts genützt. Die Ehrung mit einer Stele in der Plockstraße, wo bereits anderer Antifaschistinnen gedacht wird, ließen CDU, FDP und der eigene Koalitionspartner, die Grünen, nicht zu.
Das war früher anders. Als 1987 Ria Deeg nach dem einstimmigen Beschluss des Stadtparlaments in einer Feierstunde vom damaligen OB Mutz die Goldene Ehrennadel, die höchste Auszeichnung der Stadt Gießen, überreicht wurde, würdigten Vertreter aller Parteien die mutige und konsequente Antifaschistin. Woher nun der Sinneswandel? Was hat sich geändert?
An der Maxime „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“ hat Ria Deeg ihr Leben lang festgehalten. Nach dem Krieg und bis in die 80er Jahre war diese Maxime Konsens aller Demokraten in der BRD. Das änderte sich Ende der 90er Jahre, als die SPD/Grüne Koalition erstmals wieder Krieg führte und mithalf, Serbien in die Steinzeit zurückzubomben. Damals behauptete Vizekanzler J. Fischer, „Auschwitz verhindern“ zu wollen. Heute geht es um „Werte“ und „Menschenrechte“, und wieder sind es die Grünen, allen voran A. Baerbock, die am lautesten einen Krieg gegen Russland/China herbeireden… Und die FDP will passender weise die Gießener Städtepartnerschaft mit Wenzou kündigen.
Heute würde Ria Deeg mit am schärfsten gegen diese Kriegstreiber auftreten, folgerichtig lehnen auch die Grünen ihre Ehrung strikt ab.
Wenn auch auf dieser Sitzung kein Beschluss gefasst wurde, bleibt es dabei: Ohne Ria Deeg, die sich in Gießen wie keine andere im Kampf gegen den Hitler-Faschismus eingesetzt hat und dafür Jahre ins Zuchthaus gesperrt wurde, ist dieses Ensemble unvollständig. Es ist gut, dass es noch Sozialdemokraten gibt, die nicht vergessen haben, dass Mitglieder ihrer Partei wie die der KPD gemeinsam in den KZs der Nazis saßen und an der Losung „Nie wieder Faschismus – Nie wieder Krieg“ festhalten.
Zum Foto: Überreichung der Goldenen Ehrennadel (1987) an Ria.
Erika Beltz